"Der Deutschlandkrieg 1. Teil"

 

Ein Krieg in Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft herrscht zwischen den hier lebenden Ausländern, die sich in der U.N.I.G. vereinigt haben und den Deutschen. Die junge Mara zweifelt an den Hetztiraden der Neonazi-Anführer. Als ihr Mann und ihr Bruder einen Gefangenen mitbringen wird ihre Loyalität auf eine harte Probe gestellt, denn der " Ausländer" ist verletzt und sie rettet ihn.

Als er ihr hilft, ihre verschwundene Tochter zu finden, macht er der Deutschen ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann.

 

Seitenzahl: 404

Autorin: Tina Krauss

Preis: 10.65 Euro, Ebook bei Amazon 3.99 Euro

 

Zielgruppe: 13 Jahre aufwärts

"Der Deutschlandkrieg 1"

Jugendroman! Endzeit! Behandelt nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Abstammung, sondern auch Klischees, die in uns allen stecken.

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  Leseprobe:

Dämmrig flackerten zwei Talglampen an der Wand des düsteren Kellerraumes. Sie malten schwarze Zerrbilder auf den feuchten Beton. Das Mädchen kauerte auf einem Lager aus mottenzerfressenen Decken und betrachtete eine Weile das Schauspiel.

»Woher kommt der Krieg, Mara?«

Die Person, der diese Worte gegolten hatten, drehte sich abrupt um. »Es ist unerträglich heiß. Mal wieder!«

Die schlanke Frau mit den stoppelkurzen Haaren und der ausgefransten Uniformhose wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn.

»Sag´, woher er kommt!«

»Er kommt von der Armut«, begann sie.

»Waren wir vor dem Krieg schon arm? Du hast doch 'mal gesagt, es habe vor gar nicht langer Zeit alles gegeben. War das etwa ein Märchen?«

Die junge Frau lachte bitter. »Nein, es war kein Märchen.

  Wir waren nicht wirklich arm - nur innerlich.«

»Ist das schlimm?«, fragte das Kind mit erschrockenen Augen.

»Ja, schlimmer als richtig arm zu sein. Denn wer innerlich arm ist, der kann nicht teilen und nicht denken und nicht lieben.«

»Du lügst!«, schrie Tizia.

Sie ballte die Fäuste und schlug sie auf ihre Oberschenkel.

»Wie kannst du nur so etwas sagen?«

Tränen rollten ihr über die Wangen.

»Onkel Torsten und Daniel sagen immer, die anderen seien schuld gewesen. Sie seien von fernher gekommen, um sich unseren Besitz und unser Land zu nehmen, ja, sich sogar in unsere Familien einzuschleichen. Das sagen sie. Und ich will nicht schuld sein!«

Tizia weinte hemmungslos.

Mara warf den Holzlöffel, mit dem sie bis dahin in einer großen Dose gerührt hatte, hin, dass er nah beim Feuer lag. Zitternd nahm sie ihr Kind in die Arme.

»Sie wollen auch nicht schuld sein. Deshalb behaupten sie, es seien die Fremden gewesen.«

Sie gab ihr einen Kuss auf die heiße Wange.

»Eins verspreche ich dir: Wenn jemand Schuld hat in diesem verdammten Land, in dieser gottverdammten Welt, dann bist es mit Sicherheit nicht du!«

Tizia schluchzte.

»Erzähle mir bitte aus der Zeit, als Daniel und du euch getroffen haben...bitte...!«

 

Mara ließ die Schultern sinken.

»Habe ich dir das nicht schon oft genug erzählt?«

Sie sah ihrer Tochter ins Gesicht, sie wirkte für ihre knappen sechs Jahre zu erwachsen. Dennoch flehten ihre großen Augen jedes Mal, wenn sie nach der Geschichte aus einer ihr unbekannten Zeit verlangte.

»Na gut.«

Mara konnte dem bittenden Blick nicht länger widerstehen. Obwohl es ihr immer schwerer fiel, in dieser kindlichen Seele Hoffnungen zu wecken, die niemals erfüllt werden würden. Hoffnungen waren es aus einer Zeit, welche selbst ihr unsagbar fern schien.

»Damals«, begann sie, »pflegte ich jeden Tag...« Bei diesen Worten wiegte sie die Kleine sanft in ihren Armen.

 

Schwere Stiefel traten gegen die Holztür, dass sie aufsprang. Beide schreckten auf. Herein kamen zwei Männer. Der eine vorweg rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Sein Oberkörper war nur bekleidet mit einer ärmellosen Soldatenjacke und einem Patronengurt. Auf dem Rücken trug er eine veraltete Maschinenpistole. Hinter ihm stapfte ein Jüngerer, Maras Bruder, der etwas hinter sich her schleifte. Er hatte den Kopf gesenkt und blonde Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn. Nachdem Daniel ihm den Weg freigemacht  und mit einer ausholenden Bewegung auf ihn gedeutet hatte, wie ein Theaterdirektor, der die Bühne freigibt, entdeckte Mara die Wahrheit.

Die Last war…»Ein Mensch...?«, stotterte sie.

»Ein Gefangener!«, verbesserte ihr Mann zynisch.

»Ein Gefangener, den unser Führer mir überließ, denn es war der Verdienst deines Mannes«, Daniel schlug sich

etwas übertrieben auf die Brust, »dass er uns in die Hände fiel!«

Er sah sie überlegen an und schritt auf das Kind zu.

»Mein Liebes!«

Der große Mann setzte sich zu dem Mädchen und streichelte ihr zärtlich übers Gesicht.

Tizia tastete plötzlich über die Stelle, wo seine Hand gewesen war. Blut troff ihr vom Finger. Sie saß stocksteif.

»Das ist das Zeichen des Sieges!«

 

Ihr Vater blitzte sie aus dunklen Augen an.

»Mein Gott!« Mara war unwillkürlich neben dem Mann, den  ihr Bruder, Torsten, zu ihrem Entsetzen in der Mitte des Zimmers liegengelassen hatte, niedergesunken.

Er hatte die Lider geschlossen. Sein ebenes Gesicht war von sanftem Braun. Auf seiner linken Gesichtshälfte prangte eine blutende Schramme. Sein Haar glänzte, obwohl er durch den Schmutz gezogen worden war, schwarz. Torsten sah unsicher auf die junge Frau, dann wandte er sich ab. Mara hielt den Atem an, vorsichtig hob sie die Hände des Mannes, die er über der Brust verschränkt hatte, an. Ein leises Stöhnen war zu hören. Vor Schreck ließ sie das fremde Körperteil los.

Ihr Mann lachte vom anderen Ende des Raumes her: »Was willst du mit dem Schwein?«

Sie sah auf: »Was habt ihr getan - mit diesem Mensch?« »Mensch?«, schrie er und sprang auf.

Mara stellte sich ihm entgegen. Er packte sie an der Schulter und schüttelte sie. Unverhohlen starrte er sie an.

»Es ist nicht mehr wie früher. Wir spielen nicht mehr Räuber und Gendarm. Es gab Tote und Verletzte und es wird sie weiter geben!«

»Leider!«, die junge Frau, fast selbst noch ein Mädchen, wand sich aus seinem Griff.

»Hilf Torsten jetzt, ihn in den Verschlag zu bringen!«, befahl Daniel schroff.

 

 In letzter Zeit waren seine Züge verschlossen und seine blauen Augen leer. Der muskulöse Kerl wandte sich abermals seiner Tochter zu. Umständlich zog er Waffe und Patronengurt aus und hing beides über den alten Stuhl. Tizia beobachtete starr, wie ihr Vater krampfhaft in seinen Taschen wühlte. Plötzlich hielt er dem erstaunten Kind seine große geschlossene Hand nah vor die Nase. Langsam öffnete er Finger für Finger.

»Für dich!« Da lag ein kümmerliches Pflänzchen mit zarten, weißen Blüten.

 

»Eine Blume?«

»Ein Gänseblümchen. Früher gab es viele. Als du ganz klein warst, du kannst dich wohl nicht mehr erinnern, bist du durch eine Wiese voll solcher Blumen getollt.«                                                        

»Ich weiß, ich träume manchmal davon.«

Die kleine Tizia gab ihrem Vater einen Kuss.                                                                                                »Das glaub ich dir!« Er lächelte.

»Du musst nicht abschließen.« Mara hielt Torstens Arm fest, als er das Schloss am Verschlag einklinken wollte: »Siehst du nicht, dass er sich nicht 'mal mehr rührt?«

»Natürlich sehe ich es. Aber Daniel meinte, sicher ist sicher!«

»Sicher ist, dass er stirbt, wenn er so liegen bleibt«, entgegnete die Frau.

»Dann soll er doch!«

Der blonde Junge neben ihr, war ihr Bruder und kaum ein Mann. Mara konnte nicht glauben, dass er so abgebrüht war.

 Da zögerte er im Fortgehen einen Augenblick. Die Schultern des Jungen zuckten und er drehte sich um, ohne sie noch einmal anzusehen.

 

Mara blieb zurück. Allein stand sie da. Im Halbdunkel konnte sie den Fremden hinter dem Holzgatter kaum erkennen. Allerdings drang von Zeit zu Zeit ein Wimmern an ihr Ohr. Schließlich hatte sie eine Entscheidung getroffen. Entschlossen lenkte sie ihren Weg, nur begleitet vom Widerhall ihrer eigenen Schrittes, über den dunklen Gang. Sie war sich nicht sicher. Behutsam ertastete sie die Klinke und öffnete die Tür zu einer kleinen Kammer. Vorsichtig setzte sie Fuß vor Fuß, um nicht zu stolpern. Ein schwacher Lichtschein fiel nahe der Decke durch einen Spalt.

Bald hatte sie gefunden, was sie suchte. Mühsam entzündete sie die halbe Kerze, die dort in einer kleinen Flasche stak. Das Wachs war zuvor schon herabgelaufen und hatte bizarre Muster geformt. Mit dem spärlichen Licht beleuchtete sie das Regal an der Wand. Vieles, was die Männer von ihren Streifzügen mitgebracht hatten, hatte sich dort angesammelt. Schnell ergriff Mara ein Bündel alter Laken. Sie kniete sich und tastete mit der rechten Hand über den kühlen Boden. Unter dem Regal fand sie schließlich die bekannte Nische. Sie hatte es gewusst. Jedes Mal wenn Daniel abends in der Kammer etwas zu besorgen hatte, roch er anschließend nach Alkohol. Manchmal brachte er die Flasche in den Wohnraum  mit und gab Torsten etwas davon.

»Etwas für Männer«, sagte er dann. Mara vermutete, dass ihr Mann den Schnaps irgendwo selbst brannte. Zarte Finger umschlossen das kühle Glas. Dann eilte sie zurück zum Verschlag.

 Behutsam stellte sie die Kerze neben das Lager des Fremden. Der Lichtstrahl erhellte nur schwach seinen Körper, denn Mara musste darauf achten, dass das Stroh kein Feuer fing.

 

In diesem Moment hörte man den heftigen Aufschlag einer Granate, die in der Nähe niederging. Die Wände bebten für den Bruchteil einer Sekunde und die Flamme flackerte. Bald war es wieder still, nur der Schlafende wälzte sich unruhig hin und her. Auf seiner Stirn glänzten  Schweißperlen. Die Zeit wurde knapp.

Die junge Frau atmete tief ein. Jetzt begann sie die Laken in Streifen zu reißen, so gut es ging. Der Stoff war robuster, als Mara geglaubt hatte. Ein Ende nahm sie ihn zwischen die Zähne und zerrte an der anderen Seite. Die Kerze war bereits ein weiteres Stück abgebrannt, als aus dem Leinen ein Haufen unregelmäßiger Bahnen geworden war. Ihre Wangen waren rot vor Anstrengung. Da öffnete sie mit einem Ruck das Hemd des Mannes, der vor ihr lag. Er bäumte sich kurz auf und gab einen gequälten Laut von sich. Mara riss die blauen Augen auf und versuchte das Halbdunkel zu durchdringen.

 Lange starrte sie so auf die Wunde. Ihre Hand zitterte, als sie die Kerze zu Hilfe nahm. An den Rändern war das Blut schon dunkel und verschorft. In der Mitte jedoch glänzte es noch feucht. Hier musste die Kugel eingedrungen sein. Unsagbare Angst stieg in ihr auf. Ihr Bauch fühlte sich  ausgehöhlt an und ihr schwindelte. Sie wollte fortgehen. Sie war jedoch sicher, dass dies der Tod des Fremden sein würde.

 

 Eine Zeit verging. Mara bewegte sich nicht. Endlich erhob sie sich wie in Trance. Sie führte die Kerze dicht zum Mund und öffnete ihn, um sie auszublasen, wie das Lebenslicht dieses Verwundeten. Unerwartet wurde ihr Handgelenk umfasst und ihre Bewegung gebremst.

Mara stieß einen leisen Schrei aus, ihr Herz hämmerte so sehr, dass sie es in ihrem Kopf hörte.

 

»Du wirst sie rausholen müssen!«, verlangte eine dunkle Stimme. Er hatte zu ihr gesprochen. Der Fremde hatte deutsch gesprochen.

»Ich will dich nicht töten.«

Mara versuchte sich loszumachen und nahm die zweite Hand zu Hilfe. Doch der Griff des Fremden war eisern. Unwillkürlich traf ihr wütender Blick seine schwarzen Augen. In ihnen blitzte es hell.

»Das ist das Leben«, schoss es ihr durch den Kopf.

»Du tötest mich, wenn du gehst!«, sagte er eindringlich. 

Mara zog die Augenbrauen hoch.

»Du willst mir doch helfen?«

Seine Stimme hatte nun einen bittenden Unterton.

»Ich weiß nicht!«, stieß sie heiser hervor.

Er wandte den Kopf zu den zerrissenen Laken. Langsam öffnete er seine Hand, ließ die Frau los.

Mara stellte sich mit breitbeinig vor ihn. Sie sah auf ihn herab: »Weil... du bist ein… Feind!«

Die dunklen Augen streiften sie. Der Verletzte lachte und hielt sich die Seite.

»Sehe ich so aus?«

Mara senkte den Kopf. Panik bohrte sich in ihr Innerstes.

»Ich fürchte mich.«

»Ich fürchte mich auch«, antwortete er, »nimm das Messer!«

Der Fremde zeigte auf ihr Messer, das sie zur Sicherheit in ihrem Gürtel trug.

Ungläubig betrachtete es Mara.

»Na gut!«

Endlich kniete sie sich wieder neben ihn. Sie schraubte den Verschluss der Flasche auf, ein scharfer Geruch schlug ihr entgegen.

»Du darfst nicht alles trinken, ich muss die Wunde später desinfizieren. Wie heißt du?«, fragte sie, während sie ihren Dolch in das Feuer der Kerze hielt, so dass der Stahl sich schwarz verfärbte.

Der Angesprochene setzte die Flasche ab. 

»Wozu willst du das wissen?«

»Falls du stirbst, will ich dich ordentlich begraben. Was soll ich auf das Kreuz schreiben?«

»Da wo ich her komme kennen wir keine Kreuze«, er grinste, »sag du mir lieber wie du dich nennst, damit ich im

  Höllenfeuer Gahiem[1] auf dich warten kann?«

Sie nahm ihm die Flasche aus der Hand, tränkte etwas Schnaps auf ein Laken und rieb den Ruß am Dolch ab.

»Wir haben etwas gemeinsam. Weißt du es nicht?«, sie setzte entschlossen die Spitze des Messers auf die Wunde. »Wir sind schon in der Hölle.«

 

Seine großen Hände versuchten sich festzukrallen, solange der Stahl das Fleisch durchtrennte. Mara glaubte später, dass er selbst da keinen Laut von sich gegeben hatte, obwohl sein Mund geöffnet gewesen war. Mit Gewissheit vermochte sie es allerdings nicht zu behaupten. Denn in ihren Gedanken hatte es so laut pulsiert, dass sie es kaum ertragen konnte.

Irgendwann hatte sie das Blei entdeckt. Sie wunderte sich, dass es gar nicht so sehr blutete und ergriff die Kugel mit zwei Fingern. Würde er jetzt leben?

Mit dem restlichen Gebräu aus der Flasche tränkte sie eine der Binden und betupfte die Wunde. Dabei stöhnte der Fremde, obwohl er längst ohnmächtig geworden war. Mara war froh darüber. So wusste sie, dass er noch atmete.

Einen kleinen Schluck Alkohol trank sie selbst. Es war ungewohnt und sie verzog das Gesicht. Sie verband den Mann und sackte in sich zusammen. Ihr Oberteil klebte an ihrem Körper.

Die junge Frau wusste nicht, wie lange sie so, das Gesicht neben der versorgten Wunde, gekniet hatte. Plötzlich spürte sie den Blick eines anderen im Nacken.

»Was tust du da?«

Es klang wie eine Drohung. Mara öffnete unwillig die Augen und drehte sich unendlich langsam um.

 

Daniels massige Figur hob sich schwarz vom Hintergrund ab. Mara stützte sich beim Aufstehen auf ihr Knie. Sie hatte den Kopf noch nicht ganz erhoben als sie der Schlag ihres Mannes auf der Wange traf und zurückschleuderte.

»Was tust du hier? Du verlauste Schlampe!«

Der große Mann trat mit solcher Wucht gegen die leere Flasche, dass das Glas an der gegenüberliegenden Mauer zersprang.

»Du verschwendest meinen Schnaps und unsere Zeit an diesen Abschaum. Er wird ohnehin krepieren!«

Inzwischen war Mara wieder aufgestanden. Mit beiden Händen packte sie Daniel am Kragen. Sie sah gerade in sein Gesicht, das sie nur schemenhaft erkannte.

»Er kann nie toter sein, als du es bist!«

Stolz warf sie den Kopf zurück und ging hinaus. Warmes Blut rann ihr übers Kinn. Draußen übergab sie sich.

                               

                                         

 

Saladar betete zu Allah. Es war ein schnelles Gebet. Es war ein verzweifeltes Gebet.

Plötzlich war alles grell erleuchtet. Es gab einen Knall und stank nach verbranntem Fleisch. Alles war so schnell gegangen, der Ausländer war auf den Hosenboden geschleudert worden. Der Deutsche war wohl doch zu hoch gesprungen und hatte mit dem Gewehr auf der Schulter die Leitung berührt.  Er war fort, dort wo er gewesen war, brannte es lichterloh. Doch Saladar konnte sich nicht die Zeit nehmen, das zu verarbeiten. Denn nach Markus würden andere kommen und die würden nicht zu hoch springen. Saladar wischte sich mit dem blutverschorften Ärmel die Stirn ab. Er musste schnell zu Mara und ihm musste noch schneller etwas einfallen.

»Mara, Tizia!«, schrie Saladar atemlos. Tizia umarmte stürmisch seine Hüfte.

»Du bist zurückgekommen, was für ein Glück! Du hast dein Versprechen nicht gebrochen!«

»Lass jetzt!«

Der kräftige Mann schob das Mädchen ungeduldig zur Seite. Zuerst war Tizia enttäuscht, doch obgleich sie ein Kind war, hatte sie sogleich die Blutflecken an seiner Kleidung und seinen entsetzten Gesichtsausdruck bemerkt. Er hatte die Stirn in Falten gelegt, die Lippen zusammengepresst. Seine dunklen Pupillen schienen glasig und feucht.

»Sag mir, was das für Schüsse waren! Sag's mir ehrlich!«

Das kleine Mädchen stellte sich mit verschränkten Armen vor den Kämpfer.

»Ich habe sie genau gehört«, ihre Stimme klang so fest   und fordernd, dass Saladar bei jeder anderen Gelegenheit darüber geschmunzelt hätte, »… und Mara hat sich auch gewundert.«

Vollkommen überwältigt von dieser Botschaft ließ der Mann sich neben die am Boden liegende Frau sinken. Zärtlich strich er ihr über die Stirn.

»Meine Liebe! Ich weiß, du bist noch sehr schwach. Aber sie haben uns,...ach was sage ich..., mich entdeckt und wir müssen hier schnellstens verschwinden!«

Das alles erzählte er ihr mit seiner ruhigsten, sanftesten Stimme, als sei es ein Märchen. Mara blinzelte müde. Nachdem sie das vertraute Gesicht gesehen hatte, lächelte sie. Aber Saladar war nicht sicher, ob sie ihn verstand.

»Ich habe Regenwasser gesammelt und sie hat getrunken. War das nicht toll? War das nicht wirklich eine gute Idee, Saladar?«

Emsig versuchte Tizia ein Lob zu erhaschen. Stattdessen kam nichts als eine strenge Anordnung.

»Hör zu, Tizia! Pack Funke wieder in den Rucksack, wo er war. Nimm alles was dein ist und zieh den Rucksack auf die Schultern!«

Während Saladar das befahl, war er schon dabei, einige Sachen zusammen zu raffen.

»Aber warum?«

»Wir haben nicht viel Zeit für Erklärungen. Tu es einfach, denn wir müssen abspringen!«

»Ne!«, das Kind schüttelte den Kopf. »Der Zug fährt doch viel zu schnell.«

In der letzten Zeit war die Strecke ruhiger, das Tempo jedoch war beschleunigt worden.

Also wusste Saladar, dass Tizia die Wahrheit sprach und das ärgerte ihn.

»Duuuu!«, zischte er, wobei er nur kurz den Kopf drehte. »Bestimmt tu ich mir dabei ganz doll weh!«

»Du tust dir sicher weh! Andererseits kriegen dich diese Typen, die mich verfolgen haben, tun sie dir mit Sicherheit auch weh...Vielleicht bringen sie dich sogar um!«, fügte der Mann grinsend hinzu.

Tizias Augen wurden groß.

»Und Mara?«

»Die auch!«, bestätigte Saladar ihre Befürchtung.

Mit wilder Entschlossenheit presste das Kind den Kater, ungeachtet seines Fauchens, in die enge Tasche. Saladar stützte Mara unter der rechten Achsel, Tizia unter der linken. Zu dritt standen sie an der Tür. Der Wind wehte ihnen kalt ins Gesicht. Mara schien nicht richtig bei sich zu sein.

 Fatalerweise breitete sich vor ihnen die undurchdringliche Nacht aus. Saladar zögerte, seine Schützlinge ins Ungewisse springen zu lassen.

Plötzlich sah er, dass links und rechts der Strecke Lampen leuchteten. Er atmete auf, bis er erkannte, dass es sich abermals um eine Warnung handeln musste.

Aber um welche?

 

Die Geschwindigkeit des Zuges verringerte sich. Tizia hielt ihre Mutter umklammert, die ihrerseits ihren männlichen Beschützer fragend ansah. Sie hatte seit ihrem Erwachen kein einziges Wort geredet. Besorgt registrierte Saladar wie fahl ihre Haut schien, wie sich ihre Wangenknochen deutlich abzeichneten und wie fern das mädchenhafte Lächeln in diesem Moment war.

 

Dennoch hatte er die seltenen Augenblicke, in denen es Maras Gesicht schmückte, genau im Gedächtnis. In einem solchen - der Ausländer schloss eine Sekunde die Augen. Hatte er sich in die Deutsche, die Feindin, verliebt? Seine Sinne wurden weit und seine Brust eng.

»Warum werden wir langsamer?«, piepste Tizia.

Mit einem Mal schlossen sich die rostigen Bremsen vollständig. Funken sprühten. Saladar, Mara und das Kind fielen gegen die hintere Holzwand des Waggons. Der durchtrainierte Mann erholte sich am schnellsten von dem Schock, schüttelte den dunklen Kopf um ihn freizumachen von Schmerz und hinderlichen Träumereien. Laternenlicht drang durch die Schiebetür.

»Was soll das, Wolf?«, dachte der Ausländer.

Vorsichtig beugte er sich dem Ausgang zu. Er rieb sich die Augen, als er die boshafte Berechnung in Wolfs Vorgehen durchschaute. Nichts außer einem unerklärlichen, stetigen Rauschen durchbrach die Stille.

 

Wenn Saladar sich konzentrierte, nahm er ein silbriges Glitzern in der Tiefe, unterhalb der Gleise wahr. Beinahe mochte man glauben, der Mond sei dieses traurigen Schauspiels unter ihm geworden und mit seiner gesamten Sternenschar hinabgesprungen.

                             

 

»Ich hasse dich!«

Mara und Tizia kamen herbei: »Was is ´?«

»Dieser Hundesohn hat auf einer Brücke angehalten. Unter uns befinden sich fünfzehn Meter freier Fall, vor uns seine Meute und hinter uns ein Kilometer nur bestehend aus diesen verdammten Gleisen und Schwellen. Das schaffen wir nie bevor sie uns erreichen.«

Saladar stützte verzweifelt das Gesicht in seine rauen Hände. Tizia traten Tränen in die Augen, während der Kater im geschlossenen Rucksack rebellierte. Mitleidig betrachtete Mara den Mann, der zusammengekauert zu ihren Füßen saß.

»Es ist alles meine Schuld!«, murmelte Saladar hinter

seinen Fingern: »Aber das Schlimmste ist, Wolf wird uns schmoren lassen. Denn er hat Zeit und wir keine Wahl! Mit Tizia schaffen wir den Weg zurück nicht. Die Abstände zwischen den Schwellen sind zu weit für sie. Sie fällt

  hindurch.«

»Und wenn du mich trägst?«, schlug Tizia schluchzend vor. Der Angesprochene sah auf. Doch es war, als gehe sein Blick an ihr vorbei.

»Du bist nicht das Problem, Schatz. Ich wette meinen braunen Hintern, dass dieses Schwein sich die Freude nicht entgehen lässt, uns genau dann zu schnappen, wenn wir zu fliehen versuchen.«

Stumm blickte Mara sich um, beugte sich hinab zu dem angeschwollenen Fluss. Die Nachtluft war klar, so als hätte der vergangene Regen sie gereinigt. Sie sog sie tief ein. Ihre Augen strahlten mit alter Entschlossenheit, als sie Saladars Blick trafen.

»Dann müssen wir springen!«

 

 

 

 

 

 

 



[1] muslimische Entsprechung für Hölle