Vi-si-on Mutterland

                           Mutterland Vi-si-on  Leseprobe:

 

 

                                        - Prolog-

 

 

Viele waren schon diesem kranken Spiel zum Opfer gefallen Sie suchten einen Jungen aus, der an diesem speziellen Tag von den Hunden zerrissen wurde. Dies sollte allen anderen Glück bringen - Glück für ihre verbrecherischen Unternehmungen. So war das Gesetz. Es war ein Gesetz des Todes und der Ungerechtigkeit. Doch wie das so ist, werden Gesetze nicht immer hinterfragt. Sie sind vorher da und nachher da. So wie der Himmel und die Erde.

  Außerdem sind nicht alle Verbrecher schlau und tatsächlich sind auch nicht alle Verbrecher böse. Sie werden so, weil sie nichts anderes gelernt haben und von daher sollten wir jedem etwas Vernünftiges beibringen.

  Einer jedoch, der eigentlich Hutmacher hatte werden sollen, der war sehr böse und wusste das auch. Wenn er mit seiner kleinen, runden, gelben Brille auftauchte, dann hielten die anderen Tunichtgute den Atem an und es wurde still - so still. Der Junge jedoch tat etwas Besonderes. Er beschloss, er würde heute nicht sterben, er würde sich nicht von den Hunden, die tage -wochenlang in einem stinkenden Bauwagen eingesperrt waren, zerreißen lassen. Er würde überleben.

Manchmal ist es so, oder womöglich sogar immer, dass ein Beschluss alles ändert. Er ändert dich, er ändert mich - er ändert am Ende das ganze Universum. Und das sind natürlich die besten Geschichten.

 

Los geht s!

 

 

 

    1-Trudi  „Angst“

 

Ich hatte furchtbare Angst. Eigentlich war die Angst mein ständiger Begleiter. Diesmal war es aber anders. Sie schnürte mir den Hals zu und ich glaubte, ich würde mir in meine einzige Hose pinkeln. Ich wusste nicht, wie ich das hatte tun können. Wie konnte ich etwas wagen, dass sich niemals ein anderes Kind getraut hatte. Ich lebte an einem seltsamen Ort. Sie nannten ihn Sodom. Eigentlich war es kein Ort für Kinder und doch gab es viele wie mich. Wir waren hier angespült worden wie Treibgut oder vielleicht hatte man uns auch gesammelt wie solches.

  Wir wussten nicht, woher wir kamen und hatten keine Eltern. Wir lebten in einer ungewöhnlichen Gesellschaft und wir lebten in Furcht.

Unser Boss war einer, den nannten sie Don, doch er hatte eine Frau an seiner Seite, die half ihm bei seinen Geschäften. Dieser Don machte viele Geschäfte. Er machte Geschäfte mit Autos und einige von uns Kindern besorgten sie ihm. Sie waren viele, sie waren schnell und rotteten sich zusammen wie kleine Nagetiere. Dann knackten sie die Karre und einige fuhren heim, die andern verstreute der Wind. Niemand sah etwas, niemand wusste etwas. Aber auch mit uns Kindern wurden Geschäfte gemacht, teilweise grausame Geschäfte.

  Immer wieder verschwanden Kinder, es wurde gemunkelt, dass es einen Friedhof gäbe, auf ihm lägen einige von ihnen und sie wären ausgeweidet worden. Mein Freund, Flio, hatte mir erzählt, er hätte einmal etwas auf die Krankenstation gebracht und dort habe er Kinder gesehen, die schliefen und niemals aufwachten und sie warteten auf Operationen , bei denen nicht vorgesehen war, dass sie sie überleben sollten.

  Sodom war eine Ruine, zumindest der Teil, wo wir Kleinen lebten. Ich wusste nicht, was passiert war. Wir wussten gar nichts. Nicht wo wir herkamen - nicht wo wir hingingen. Wie die Oberen das machten, war mir nicht klar. Aber wir hatten keine Erinnerung an unser Vorleben. Alles, was wir kannten, war diese Ausweglosigkeit, die Düsternis und den Gedanken, dass es kein Entkommen gab.

 

 

 

   Primis

 

Es ist ein großer Baum, vielfach verästelt und eine Hexe, eine alte Mambo, sitzt an seinem Stamm - Tag und Nacht. Sie ist nicht tot, sie ist nicht lebend.

Sie ist eine Gestalt des Zwielichts und wird Dschaymalla genannt.

Wie bei allen anderen Gewächsen, wächst das Übel am schnellsten.

Dschaymalla ist dazu da, alles in der Waage zu halten.

Wir sehen sie nicht, wir spüren sie. Sie ist eine mächtige Frau. Mit dem einen Sinn - dem anderen, für den es keinen Namen gibt - kann sie hinter die Blätter und fein verästelten Zweige sehen, denn durch den Baum kann man auf die andere Seite gehen.

Sie ist mächtig, doch sie richtet nicht. Ihre Augen sind geschlossen. Ohne Augen sieht sie das System der Welt. Sie erkennt die Krankheit, sieht voraus, wer lebt und wer stirbt. Nur selten, ganz selten flüstert der Wind selbst ihr eine Geschichte zu - vom Leben und vom Sterben und von der Gerechtigkeit - die die Geschicke der Menschenkinder wie einen gestrickten Schal verflechtet. Und noch seltener - eigentlich fast nie - zeigt die mächtige Wächterin eine Regung.

Mag sein, sie vernimmt einen Misston im Singsang des Windes oder ihr inneres Auge erblickt eine Unregelmäßigkeit in der Verwebung der Knoten des Spinnennetzes der Geschicke der Erdenkinder.

 

 Dann und nur dann erhebt sich Dschaymalla und mit ihr erhebt sich der Wind und er schüttelt den Lebensbaum, einige Blätter fallen, die Fäden lösen sich und verbinden sich neu.

Manchmal wächst dann dort Macht, wo vorher keine war. Ab und zu sogar Hoffnung.   

 

 

   2- Ten    „Zeit“

 

 

»Zeit«, so sagt man, »ist relativ. Doch hier - wo ich war - war sie lang und sie war ewig. Es war nichts Relatives an ihr. Ich wusste nichts, ich hatte nichts. Sie nannten mich Ten. Ich war etwa zehn Jahre alt, aber so sicher war sich da niemand, nicht einmal der Hutmacher, der mich wohl irgendwann eingesackt hatte, so wie man einen Streuner am Straßenrand mitnimmt.«

Wenn man auf ein schlimmes Ende, das zudem von Hundezähnen ausgelöst werden soll, wartet und man wartet und wartet - dann ist das Folter.

Man wusste, was kommt, man wusste, man wird sterben.

 Doch bei mir hatte sich hier im Zwielicht des Bauwagens eine seltsame Gleichgültigkeit eingestellt. Ich tröstete mich in meiner Einsamkeit mit dem Gedanken, dass doch alle anderen auch in irgendeiner Art auf ihren Tod warteten. Eventuell war ich sogar im Vorteil, weil ich genau wusste, wann er käme, er käme am Nikolaustag. Es war Zufall gewesen - Schicksal wahrscheinlich - der Hutmacher hatte meinen Namen gezogen, er war mit den Namen der anderen Jungs in seinem Hut gewesen. Ich konnte ihn nicht lesen. Für mich war es irgendein Gekritzel. Ich hätte Spuren im Schnee lesen können oder Wolken am Himmel die Regen ankündigten. Aber Bleistiftstriche auf Papier? Wer sollte das auseinanderhalten?

 

 Nie hätte ich gedacht, dass so etwas einmal wichtig werden könnte. Doch so war es. Alle Jungs hatten da gesessen auf der schwarzen, von Schlacken durchzogenen, Erde in der großen Halle und gezittert.

Ich aber hatte nur eine große Kälte gespürt, die sich in meine Knochen bohrte und mein Blick schweifte zur hohen, kuppelförmigen Hallendecke, der Fabrik, die von unzähligen Rissen in ihrem gelbverfärbten Glas durchzogen war. An manchen Stellen waren Fetzen aus der Kuppel gebrochen und man konnte den Himmel erahnen.

Die Wolken jagten einander und nahmen die Form der Hunde an, die das Leben von einem von uns armen Bengeln beenden würden.

»Er wird es sein!«, zischte eine Stimme in meinem Kopf.

»Es ist nicht so wichtig!«, sagte eine andere, dunklere. »Es ist einerlei,

  niemand hat eine Chance gegen diesen Dschaydan!«

»Du gibst zu früh auf - wie immer, Koljov!«, meinte die eine Süße, die mich tröstend in den Schlaf sang. »Nicht immer ist alles einerlei. Nicht immer hat man keine Chance. Sag an: Willst du leben? - Dann lebe!«

 

Der Hutmacher griff in den Hut und seine Gespielen starrten ihn an. Vielleicht hatte er etwas gesagt, vielleicht hatte ich nicht zugehört und meine unbeirrte Unbeteiligtkeit erregte sein übles Interesse.

Neben mir saß der rothaarige Lenni, ich spürte wie er zitterte, ich musste ihn nicht einmal ansehen. Doch ich war zwar in meiner abgewetzten Hose und ausgehungert wie ich war, ein gutes Opfer, aber es interessierte mich alles nicht. Denn ich stellte mir vor, dass ich in einer Blase wäre und die Stimmen in meinem Kopf würden mich schützen. Womöglich war es so!

  Der Hutmacher zog seine dürre, hässliche Hand aus dem Hut und sie war leer. Ich spürte Lenni und die anderen den Atem anhalten, aber mein Blick ging nach oben zu den Rissen der Kuppel. Wie lange würde es noch dauern bis sie zerriss? Die Scherben würden dieses scheußliche System bedecken und niemand würde mehr Jungs einsperren, die hier niemals hingehört hatten.

 

Bosko, des Hutmachers grobschlächtiger Handlanger,

wurde ungeduldig: »Boss!«

Ein Langer in Stiefeln steckte sich eine Kippe an und blies den Rauch über den Hut.

Der Hutmacher führte seinen Zeigefinger vor den Mund:»Psssst! Da ist etwas. Da ist ein Ding, das die Auswahl stört.«

»Boss, da ist nix, kein Ding oder so. Wir können weitermachen. Es ist schweinekalt.«

»Wer hat dich denn gefragt, du Dummbrot? Von so etwas verstehst du nichts. Das ist ein heiliges Ritual und darf nicht gestört werden von irgendwelchen unterschwelligen Kräften.«

 

 Bosko hatte sich getäuscht, denn tatsächlich war da etwas und es kitzelte mein Knie und krabbelte zierlich unter meinem völlig verdreckten Finger hervor. Es war eine Motte, sie war groß und schillernd weiß. An ihren Fühlern glitzerte sie golden, sie putzte sich, bevor sie sich in die Luft erhob, in der die Staubkörner tanzten, schien sie mich anzusehen.

Der Hutmacher schob seine kleine Brille, die eher einem Zwickel[1] ähnelte, auf die Nasenspitze und schielte über die goldenen Gläser. Er sah mich genau an und in dem Moment, da die Motte startete, traf mich sein Blick.

»Du!«, knurrte er.

 Ich aber pustete mir nur die schwarze Strähne, die mich immer nervte, von der Nase und schaute dem Tierchen nach, das beinahe schon bei dem größten Loch in der Kuppel  angekommen war.

Als die Motte in den Sonnenuntergang flog, las der Hutmacher meinen

Namen: »Ten!« und seine Leute rissen mich auf die Füße. Ich fühlte die Erleichterung der anderen Jungs.

»Verpisst euch! Und freut euch! Ihr könnt euer armseliges Leben weiterleben. Den hier seht ihr nur noch einmal in einem Stück!«

Einige brauchten etwas länger, Lenni drehte sich noch einmal um und sein mitleidiger Blick blieb an mir kleben.

»Na, du?« Ich wusste nicht, was eine rhetorische Frage war, doch ich wusste, dass der Typ mit dem hageren Totengräbergesicht und den fettigen Haaren nicht wirklich eine Antwort erwartete. Seine Augen blitzten. »Naja, fast ein bisschen schade um dich!«

Er tätschelte meine Wange. »Aber Tradition ist Tradition!«

Da sah ich im Augenwinkel ein Mädchen, das sich hinter einer Säule versteckte. Sie war schwarz und etwa so alt wie ich.

»Wohin?«, fragte Bosko, der mich mit seinem langen Kollegen jeweils an einem Arm hielt.

»In den Bauwagen und gebt ihm was zu essen.«

»Und den Kötern?«

»Denen gebt ihr nix! Soll doch ne Gaudi werden«, meinte der Hutmacher im Fortgehen. »Mach s gut, Kleiner!«

Ich grinste. Mein Blick heftete sich an den Alten und ich dachte: »Ich werde nicht sterben, du alter Sack! Ich bringe dich um und es wird mir ein Vergnügen sein, damit alle Kinder zu rächen, die du auf deinem Deckel hast.«

 

 

  

 

 

 

    Secundo

 

Slotti, die Motte, flog hoch, sie flog in die Farben des schwindenden Tages und als das Orange und das Rosa in einem letzten Sonnenstrahl explodierten, da fühlte sie die Nähte der Zeit und sie quetschte sich hindurch und flog hinter den Vorhang.

»Oh Zwielichtige, Immerwährende! Ich habe ihn gesehen«, die Mittlerin rief es laut, doch nicht mit Worten, sondern in der Sprache der Innenwelt. Ihr Gedanke war rot und glühend und bahnte sich ihren Weg ins Bewusstsein der Dschaymalla.

 Der winzige Gedanke der kleinen Motte brannte im Kopf der Weltenlenkerin. Er bahnte sich seinen Weg wie ein ungestüm sausender Funke und verfehlte nicht sein Ziel.

Ein Auge der Hexe zuckte. Auf ihre Lider war mit der Asche Thebens ein allsehendes Auge gemalt und nur mit ihnen konnte man die Wahrheit erkennen.

  Dann erwachte sie und mit ihr erhob sich der ewige Wind, er zerrte an den silbernen Spinnfäden, die den ganzen Baum bedeckten, die Tautropfen gefroren und spielten ein trauriges Lied.

»Ist er es?«

»Ja, er ist es!«

Sie schrie, schrie den ewigen Schrei, den die Erwachsenen nie hören, es war ein Laut des Schmerzes und der Wut, er drang durch die Nähte in die Welt und weckte dort die Babys.

Sie rief die große, silberne Schlange und in ihrer Hand wurde die Schlange zum Stab des Donners. Vor ihm zitterten Berge und Wälder, Mann und Maus.

»Wir retten ihn!«

 

 

 

 

 



[1] Sehhilfe ohne Ohrbügel